Aadhaar - Abschreckendes Beispiel für digitale Identitäten?
Aadhaar gilt als das grösste ID-System der Welt. Es hilft Millionen, doch Kritiker sehen Überwachung, Ausgrenzung und Datenschutzprobleme.

Aadhaar ist ein System in Indien für digitale Identitäten. Das Ziel des Projektes ist es, Korruption und Betrug im eigenen Land zu verhindern. Es soll vor allem der ärmeren Bevölkerung zugutekommen, da diese so einfacher Sozialleistungen beziehen können. Das System speichert Personalien und biometrische Daten wie Finger- oder Handabdrücke, Gesicht- und Irisscans. Auch werden mit der Aadhaar-ID Gesundheits- und Finanzdaten verknüpft. Das System teilt dann jedem Bürger eine 12-stellige und eindeutige Aadhaar-ID zu. (Radunski, 2024)
Weshalb wurde Aadhaar eingeführt?
Vele Menschen in Indien haben keinen Pass und keine Geburtsurkunde. So ist es für diese Menschen nicht oder nur sehr schwer möglich, Sozialleistungen zu beziehen. Auch ein Bankkonto zu eröffnen oder eine SIM-Karte zu kaufen ist nicht möglich. Indien hat mit Korruption und Betrügereien zu kämpfen. Menschen erschleichen sich doppelte Sozialleistungen oder umgehen Essensrationen. Diese Probleme sollen durch die Aadhaar-ID besser bewältigt werden können.
Adhaar Zwang?
Zu Beginn war die Aadhaar-ID freiwillig, mittlerweile wird sie jedoch für alle staatlichen Leistungen benötigt. Ohne Aadhaar-ID kann man unter anderem kein Bankkonto eröffnen, keine SIM-Karte beziehen, keine Steuererklärung abgeben und keine Sozialleistungen beziehen.
Die Probleme mit Aadhaar
Dieser Aadhaar-Zwang geht vielen zu weit. Kritiker des Projekts bezeichnen Aadhaar als totalitär, verfassungswidrig und freiheitsbeschränkend. Ob Aadhaar wirklich verfassungswidrig ist, wird aktuell von einem indischen Gericht untersucht. Ein definitiver Entscheid liegt noch nicht vor. Nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs vom August 2017 ist jedoch klar, dass Privatsphäre in Indien ein Grundrecht ist. Ob und wie sich dieses Urteil auf Aadhaar auswirkt, ist noch ungewiss. Klar ist aber, dass das System Daten sammelt - und zwar viele. Bei jeder Benutzung von Aadhaar wird der Zeitpunkt, der Ort der Aktivität sowie die beteiligte Drittpartei gespeichert. Diese Daten werden dann analysiert und weiterverarbeitet. Immer wieder gibt es beim Aadhaar-System viele Bedenken bezüglich des Datenschutzes und der Sicherheit.
Bedenkliche Vorfälle
Im Oktober 2023 beispielsweise wurden durch Hacker gestohlene Daten im Darkweb zum Verkauf angeboten. Die Daten enthielten Aadhaar-Informationen von insgesamt 815 Millionen Indern. Laut den Angreifern wurden diese Daten aus den Covid-19-Testdaten extrahiert. Ein weiterer bedenklicher Vorfall ereignete sich 2018. Einer Journalistin von “The Tribune” gelang es, sich für umgerechnet CHF 5.20.- einen Zugang zum Aadhaar-Portal für Beamte zu erkaufen. Dieser Kauf schloss sie über WhatsApp ab. Durch diesen Zugang konnte sie beliebige Aadhaar-Nummern abfragen. Das System gab zu jeder Aadhaar-ID alle zugehörigen Informationen aus. Gegen diese Journalistin wurde nun Anklage erhoben. (Verlag C.H.Beck oHG, 2024), (HT News Desk, 2024), (Radunski, 2024)
Technische Probleme
Oft hat das System mit technischen Problemen zu kämpfen. Teils sind ganze Gebiete Indiens vom Internet getrennt oder können die Aadhaar-Systeme aus anderen technischen Gründen nicht erreichen. Wenn das System nicht erreichbar ist und die Menschen sich nicht ausweisen können, werden ihnen dann oft Sozialleistungen verwehrt. Auch hat Aadhaar Probleme mit Fingerabdrücken, die sich verändern. Viele Menschen in Indien arbeiten in Berufen, in denen man die Hände beansprucht. Dadurch kann sich der Fingerabdruck verändern und Aadhaar erkennt sie dann nicht mehr. Die einzige Möglichkeit, dann den Zugriff wieder zu erhalten, ist ein Aadhaar-Büro aufzusuchen. Diese können aber teils ganze Tagesreisen entfernt liegen. Für Menschen in ärmeren Regionen oder gebrechliche Menschen ist dies oft nicht möglich. Laut “The Guardian” haben Aktivisten mehrere Fälle verfolgt, in denen Menschen aufgrund von nicht funktionierender Aadhaar-ID Sozialleistungen oder Hilfe verweigert wurde. In einigen der dokumentierten Fällen verhungerten Menschen, da ihnen aufgrund einer nicht funktionierend Aadhaar-ID die Essensausgabe verweigert wurde. Das jüngste Opfer soll gerade mal 11 Jahre alt gewesen sein. (Ratcliffe, 2024)
Abschrekendes Beispiel? (Persönliches Fazit)
Die Aadhaar-ID ist für mich ein Beispiel dafür, wie digitale Identitäten nicht sein sollen. Man muss aber auch sagen, dass Indien und somit die Bevölkerung Indiens grösstenteils von der Aadhaar ID profitiert. Viele Menschen konnten nur dank Aadhaar Zugang zu einem Bankkonto oder Sozialleistungen erhalten. (Nilekani, 2025)
Die Aadhaar ID startete 2009, in diesem Jahr wurde gerade Windows 7 oder die ersten Versionen von WhatsApp veröffentlicht. Aadhaar war seiner Zeit weit voraus. Indien brauchte einfach schnell eine Lösung, um die rasant wachsende Bevölkerung mit Ausweisen auszurüsten. Diese Aufgabe wurde, wie ich finde, sehr gut gelöst.
Das Problem ist die Langlebigkeit dieser Lösung. Was 2009 in der Digitalisierung Top-modern war, ist heute 15 Jahre später, stark veraltet. Man müsste die komplette Infrastruktur grundlegen überarbeiten, damit sie heutigen Standards und Anforderungen gerecht werden würde.
Wir sollten die Aadhaar ID nicht als abschreckendes Beispiel betrachten, sondern als Erfahrung. Länder wie die Schweiz oder Deutschland haben heute viel mehr technisch und finanzielle Ressourcen als Indien damals hatten. Auch haben wir, anders als Indien, keinen Zeitdruck. Unter diesen Aspekten, bin ich davon überzeugt, dass es möglich sein wird, digitale Identitäten zu schaffen, die allen Anforderungen gerecht werden kann.
Quellen
Radunski Michael Das weltgrößte biometrische Erfassungsprojekt kriselt [Online] // heise online. - 23. 11 2024. - https://www.heise.de/hintergrund/Das-weltgroesstebiometrische-Erfassungsprojekt-kriselt-4165928.html
Ratcliffe Rebecca How a glitch in India's biometric welfare system can be lethal
[Online] // The Guardian. - 23. 11 2024. -
https://www.theguardian.com/technology/2019/oct/16/glitch-india-biometric-welfaresystem-starvation
Verlag C.H.Beck oHG Indien: Oberstes Gericht erklärt Privatsphäre zum Grundrecht [Online] // rsw.beck.de. - 05. 12 2024. - https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/indien-oberstes-gericht-erklaertprivatsphaere-zum-grundrecht
HT News Desk Aadhaar details of 81.5 cr people leaked in India's ‘biggest’ data breach [Online] // Hindustan Times. - 23. 11 2024. - https://www.hindustantimes.com/technology/in-indias-biggest-data-breach-personalinformation-of-81-5-crore-people-leaked-101698719306335.html
Nilekani Nandan India’s Aadhaar System: Bringing E-Government to Life [Online] // chandlerinstitute.org - 30.05.2025 - https://www.chandlerinstitute.org/governancematters/indias-aadhaar-system-bringing-e-government-to-life